Weekly, KW 19
Guten Abend aus der rethink-Redaktion.
In Liverpool jubelte gestern Abend Loreen über ihren Sieg für Schweden beim Eurovision Song Contest, in der Türkei besteht heute die reelle Chance, dass jemand anderes als Langzeitpräsident Erdogan einen Sieg feiert und im Bündner Bergdorf Brienz steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es in den nächsten Tagen massiv rumpelt.
Wahlen in der Türkei.
In der Türkei finden heute Sonntag Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. 64 Millionen Türkinnen und Türken waren aufgerufen, ihre Stimmen abzugeben. Dabei haben sie eine Stimme für den Präsidenten und eine für das Parlament. Gegen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan, der bereits seit 20 Jahren an der Macht ist, tritt als aussichtsreichster Kandidat Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu an. Er vertritt ein Bündnis aus sechs Oppositionsparteien. Kilicdaroglus sozialdemokratische Partei CHP tritt zusammen mit fünf kleineren Parteien unterschiedlicher Lager an. Unter ihnen sind auch ehemalige Erdogan-Anhänger. Die prokurdische HDP tritt wegen eines drohenden Parteiverbots unter dem Banner der Grünen Linkspartei an. Sie bildet mit kleineren linken Parteien ein Bündnis, das ihre Wähler:innen dazu aufgerufen hat, für Kilicdaroglu zu stimmen.
Hintergrund:
Erdogan hat seit der Einführung eines Präsidialsystems 2018 so viel Macht wie nie zuvor und kann weitgehend am Parlament vorbei regieren. Kritiker:innen befürchten, dass das Land mit rund 85 Millionen Menschen vollends in die Autokratie abgleiten könnte, sollte Erdogan erneut gewinnen.
Die Chancen der Opposition auf einen Sieg stehen so gut wie nie. Kilicdaroglu liegt in den meisten Umfragen vorne, es zeichnet sich aber ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen ab.
Das waren die Wahlkampfthemen:
Hauptthema im türkischen Wahlkampf war vor allem die schlechte wirtschaftliche Lage mit einer massiven Inflation. Im Vergleich zum Vorjahr stiegen die Preise im April um 43.7 Prozent, was aber seit Ende 2021 die niedrigste Inflationsrate darstellt. Viele Menschen im Land leiden unter den steigenden Preise.
Vor allem junge Türkinnen und Türken stehen auch der Gesellschaftspolitik von Erdogan kritisch gegenüber. Seit die islamisch-konservative AKP von Recep Tayyip Erdogan an der Macht ist, werden Rechte von LGBTQ+-Menschen, Alevitinnen oder Kurden eingeschränkt. Sechs Millionen junge Menschen wählen heute zum ersten Mal ihren Präsidenten. Sie kennen nur eine Türkei mit dem Präsidenten Erdogan. Und dieser gibt selbst zu, dass es ihm schwerfalle, diese Generation von ihm zu überzeugen.
Erdogan ging die Opposition und Teile der Gesellschaft immer wieder mit scharfer Rhetorik an. Kilicdaroglu nannte er bei einem Wahlkampfauftritt in Istanbul einen “Säufer und Betrunkenen”. Er äusserte sich wiederholt LGBTQ+-feindlich und machte Teilen der Opposition den Vorwurf, sich für Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans Menschen auszusprechen. Erdogan versprach bei seinen Auftritten zudem, die Beamtengehälter im Falle eines Wahlsieges anzuheben.
Kemal Kilicdaroglu wiederum rief seine Zuhörer:innen dazu auf, “autokratische Führung mit demokratischen Mitteln auszuwechseln”. Er betonte immer wieder, dass er das Land einen will und Minderheiten mehr Recht zusprechen.
Ein weiteres Thema, das die Bevölkerung in der Türkei beschäftigt, ist die Reaktion der Regierung auf das verheerende Erdbeben im Februar. Erdogan versucht zwar, die zerstörten Regionen rasch wieder aufzubauen und die Schäden der betroffenen Menschen mit Direktzahlungen zu kompensieren. Die Opposition um Kilicdaroglu hingegen wirft der Regierung Versagen auf ganzer Linie vor: Aufgrund schlechter Baupolitik und Korruption trage sie eine Mitschuld an der Katastrophe.
Was jetzt passiert:
Erste Wahlanalysen werden im Verlauf des Abends erwartet. Hunderttausende Beobachter:innen von Regierung, Opposition und Nichtregierungsorganisationen werden die Urnen in der Wahlnacht absichern. Das macht Wahlbetrug zumindest schwieriger. Politexpert:innen befürchten, dass Erdogan bei einem knappen Wahlausgang versuchen könnte, das Ergebnis anzufechten. So hatte seine Partei etwa 2019 das Resultat der Istanbuler Bürgermeister-Wahl nach einem Sieg der Opposition annullieren lassen.
Recep Tayyip Erdogan hat am Freitagabend angekündigt, auch im Fall einer Niederlage das Ergebnis der Wahl zu akzeptieren. Wenn sich das Volk am Sonntag gegen ihn entscheide, werde er tun, “was die Demokratie erfordert”. Er gehe jedoch davon aus, dass er für eine dritte Amtszeit gewählt werde.
Gewinnt keiner der Kandidaten in der ersten Runde die absolute Mehrheit, kommt es am 28. Mai zu einer Stichwahl. Wer die Mehrheit im Parlament mit seinen 600 Abgeordneten erringen wird, ist noch nicht absehbar. Die Partei, die das Parlament gewinnt, hätte in einer Stichwahl einen psychologischen Vorteil.
Bergdorf Brienz evakuiert.
Seit Freitagabend um 18 Uhr ist das Dorf Brienz im Kanton Graubünden leer. Mensch und Tier haben ihre Wohnungen und Behausungen verlassen müssen. Einheimische und Auswärtige dürfen das Dorf bis auf weiteres nicht mehr betreten, Checkpoints und Videoüberwachung sollen Plünderungen verhindern und der Luftraum ist im Umkreis von 3.5 Kilometern für bemannte Flugzeuge und Drohnen gesperrt.
Der Grund ist schon länger bekannt: Der Hang oberhalb des Dorfes ist in Bewegung. Ein Felsvolumen von zwei Millionen Kubikmetern droht in Richtung Brienz zu rutschen. Seit rund sechs Jahren wissen die Brienzerinnen und Brienzer, dass sie ihr Dorf irgendwann auf unbestimmte Zeit verlassen müssen. Am Dienstagabend informierten die Behörden der Gemeinde Albula, zu der auch das Dorf Brienz gehört, dass es nun deutlich dringlicher wird und die Evakuierung bis am Freitag abgeschlossen werden muss.
84 Einwohner:innen wurden evakuiert und haben eine alternative Unterkunft gefunden. Der Gemeinde seien über 130 Wohnungen angeboten worden, so der Kommunikationsverantwortliche von Albula.
Was jetzt passiert:
Die Gesteinsmassen werden präzise überwacht. Und doch sei schwierig vorherzusagen, was in den nächsten Tagen im Detail passieren wird, sagte Simon Löw gegenüber SRF. Er ist emeritierter Professor für Ingenieurgeologie der ETH Zürich und Berater der Regierung Graubünden.
Möglich ist, dass sich der Hang laufend noch schneller bewegt und sich daraus ein Fliessen entwickelt. Eine weitere Möglichkeit ist, dass es viele kleinere Felsstürze gibt. Im extremsten, aber eher unwahrscheinlichsten Fall, könnte es einen Bergsturz geben, bei dem grosse Gesteinsmassen innert 30 Sekunden mit einer Geschwindigkeit von 100 bis 200 Stundenkilometern den Hang hinab donnern und das Dorf zerstören.
Aktuell gilt die Phase Rot, das bedeutet dass die Behörden in den nächsten vier bis 14 Tagen ein Ereignis am Berg erwarten.
Weitere Nachrichten der Woche in Kurzform.
Pakistan:
Anfangs Woche wurde der frühere Premierminister Pakistans, Imran Khan, festgenommen. Seitdem gibt es massive Proteste. Tausende seiner Anhänger:innen protestieren für seine Freilassung und liefern sich gewaltsame Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften. Dabei wurden mindestens sechs Menschen getötet, mehr als 2’000 Menschen wurden im ganzen Land festgenommen. Imran Khan war im April 2022 durch ein Misstrauensvotum im pakistanischen Parlament gestürzt worden. Ihm wird nun Korruption vorgeworfen. Khan selbst weist die Anschuldigungen von sich. Sie resultieren aus nur zwei von insgesamt mehr als 100 Ermittlungen, die nach seiner Amtszeit eingeleitet wurden. In den meisten Fällen droht Khan bei einer Verurteilung ein Verbot, öffentliche Ämter zu übernehmen. Im November sind in Pakistan Wahlen geplant.
Streik Deutschland:
Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) wollte ab Sonntagabend um 22 Uhr, mit einem 50-stündigen Warnstreik zum dritten Mal in diesem Jahr den Bahnverkehr in Deutschland behindern. Dieser wurde nun zumindest bei der Deutschen Bahn und damit dem grössten Verkehrsunternehmen abgewendet. Die DB hatte am Samstagmorgen einen Eilantrag zum Stopp des Streiks beim Arbeitsgericht in Frankfurt am Main eingereicht. Bereits ab 12 Uhr wurde verhandelt - mit Erfolg. Die Deutsche Bahn und die EVG haben sich auf einen Vergleich geeinigt und damit den Warnstreik verhindert. Teil des Vergleichs sei demnach, dass die Parteien sich darauf verständigt hätten, zügig und konstruktiv zu verhandeln, mit dem Ziel eines baldigen Abschlusses. Auch das Thema Mindestlohn sei Bestandteil des Vergleichs und von beiden Parteien als Lösung anerkannt. Die EVG und 50 deutsche Bahnunternehmen streiten seit Ende Februar über neue Tarifverträge. Die Gewerkschaft fordert dabei zwölf Prozent mehr Lohn und einen Mindestlohn von zwölf Euro. Angesichts den gestiegenen Energie- und Lebenshaltungskosten müsse die Lohnerhöhung deutlich ausfallen, so die EVG.
Trotz des Vergleichs werde es in den nächsten Tagen Einschränkungen im Bahnverkehr im deutschen Regional- und Fernverkehr, aber auch im internationalen Personenverkehr geben. Es müssten 50’000 Zugfahrten sowie die dazugehörigen Schicht- und Einsatzpläne neu geplant werden. Und der Vergleich gilt nur mit der Deutschen Bahn, der Streikaufruf für einige andere Bahnunternehmen gelte weiterhin, teilte die EVG mit.
Zum Schluss haben wir noch einen Programmhinweis. Voraussichtlich am Mittwoch werden wir die Zusammenfassungen für die nationalen Abstimmungen Mitte Juni auf rethink online stellen. In rund fünf Minuten Lesezeit pro Thema, stellen wir Dir die wichtigsten Informationen über die Vorlage vor, wer dafür und wer dagegen ist und was deren Argumente sind. Zu lesen ab Mittwoch auf rethink-blog.com
Das war’s von uns für diese Woche, vielen Dank für dein Vertrauen. Wir lesen uns nächsten Sonntag.
Redaktionsschluss: 14:00
Weekly 19/2023
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