Weekly, KW 44
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Guten Abend aus der rethink-Redaktion.
Heute geht es darum, ob eine lesbische Frau ihre sexuelle Orientierung in Tunesien verbergen soll, damit ihr keine unmenschliche Behandlung droht und wieso die “alte Tante” in Grossbritannien so unter Druck geriet.
Bundesgericht entscheidet über Beschwerde von homosexueller Tunesierin.
Das oberste Gericht der Schweiz in Lausanne entschied Anfang Oktober über eine Beschwerde einer Tunesierin. Diese Woche ist das Urteil bekannt geworden. Konkret geht es um eine Frau, die 2017 aus Tunesien in die Schweiz reiste und eine eingetragene Partnerschaft mit einer schweizerisch-tunesischen Doppelbürgerin einging. 2023 wurde diese Partnerschaft gerichtlich aufgelöst. Zwischen März 2017 und September 2023 bezog die Frau Sozialhilfeleistungen in Höhe von über 217’000 Franken. Aus diesem Grund verweigerte ihr der Kanton Waadt im Januar 2024 die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung und ordnete die Wegweisung an.
Die Frau machte dabei geltend, dass ihr in Tunesien aufgrund ihrer Homosexualität unmenschliche Behandlung drohe. Das Waadtländer Kantonsgericht meinte dazu, sie könne ihre sexuelle Orientierung ja “verbergen”.
So urteilte das Bundesgericht:
Die Richterinnen und Richter in Lausanne gaben dem Kantonsgericht recht, dass aufgrund der bezogenen Sozialhilfe und nur vereinzelten Arbeitseinsätzen die “wirtschaftliche Integration” in der Schweiz nicht gegeben sei.
Das Bundesgericht befasste sich im Urteil aber deutlich ausführlicher mit der Frage, ob die Frau wegen ihrer Homosexualität persönliche Gründe geltend machen könne, die eine Wegweisung nach Tunesien verhindern würden.
In früheren Urteilen verneinte dies das Bundesgericht, wenn die Personen im Herkunftsland bis zu einem gewissen Alter gelebt und dort eine “anonyme” Existenz geführt hatte, ohne dass ihre Homosexualität bekannt war oder ihr unmittelbar Schaden zugefügte.
Das Bundesgericht verweist im aktuellen Urteil nun aber auf die neuere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), die in Fällen, die auch die Schweiz betrafen, die Relevanz der Europäischen Menschenrechtskonvention für homosexuelle Personen bei Wegweisung betont. Der EGMR hat mehrfach klargestellt, dass die sexuelle Orientierung ein wesentlicher Bestandteil der Identität einer Person ist und niemand gezwungen werden sollte, diese zu verbergen, um Verfolgung zu entgehen.
Erst vergangenen November hatte der EGMR eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention festgestellt, weil die Schweiz das Risiko einer Misshandlung eines homosexuellen Mannes im Iran, wo homosexuelle Handlungen schwer bestraft werden, nicht ausreichend geprüft hatte.
Das Kantonsgericht Waadt hatte festgestellt, dass Homosexualität in Tunesien prinzipiell illegal ist, mit dreijähriger Haftstrafe sanktioniert wird und in der Praxis strafrechtlich verfolgt wird, wenn sie offen gelebt wird. Es anerkannte die täglichen Diskriminierungen und die schwierige Lage der LGBTQ+-Gemeinschaft in Tunesien. Dennoch hatte es die Wiedereingliederung der Beschwerdeführerin als nicht stark gefährdet eingeschätzt, da sie keine frühere Verfolgung nachweisen konnte und das Risiko durch ein "anonymeres Leben in der Hauptstadt" reduziert werden könnte.
Das Bundesgericht erachtete diese Argumentation als unzureichend. Es widerspricht den Urteilen vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dass eine Person ihre sexuelle Orientierung verbergen muss, um Verfolgung zu entgehen. Ausserdem sei die sexuelle Orientierung der Frau durch die eingetragene Partnerschaft in der Schweiz möglicherweise bereits öffentlich bekannt und daher in Tunesien gar nicht mehr verheimlichbar.
Das Bundesgericht betonte jedoch, dass die blosse Kriminalisierung und Verfolgung der Homosexualität in Tunesien allein noch nicht ausreiche, um ein konkretes Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder eine stark gefährdete Wiedereingliederung zu begründen. Diese Fragen müssten einer Einzelfallprüfung unterzogen werden. Darum wies das Bundesgericht das Urteil an das Waadtländer Kantonsgericht zurück, damit dieses den Sachverhalt weiter abklärt.
Was bedeutet das jetzt für die Frau?
Das Urteil bedeutet nicht, dass die Frau automatisch in der Schweiz bleiben darf. Das Kantonsgericht muss nun gründlicher prüfen, ob im konkreten Fall ein tatsächliches Risiko bestehe, dass die Frau - aufgrund ihrer sexuellen Orientierung - in Tunesien unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention ausgesetzt wäre.
Medienbeben in Grossbritannien.
Die BBC, die weltberühmte öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt, steckt in einer tiefen Führungskrise. Der Generaldirektor Tim Davie wie auch die Nachrichtenchefin Deborah Turness traten zurück. Während Wochen gab es Vorwürfe, die BBC sei voreingenommen. So hatte die Zeitung “Daily Telegraph” über ein internes BBC-Dokument berichtet, das Fehler auflistete. Dabei ging es auch um den US-Präsidenten Donald Trump.
Demnach waren in der Sendung “Panorama” zwei Teile einer Rede Trumps vom 6. Januar 2021 so geschnitten, dass der Eindruck entstand, Trump habe direkt zum Capitol-Sturm aufgerufen statt … zum Capitol-Sturm aufgerufen zu haben. Der publizistische Fehler lag eigentlich darin, dass den Zuschauer:innen nicht klar gezeigt wurde, dass die Rede zusammengeschnitten wurde. Darüber, ob Trump direkt oder indirekt seine Anhänger zu einem Sturm auf den Parlamentssitz in Washington aufgerufen habe, müsste eigentlich gar nicht diskutiert werden.
Befeuert wurde die Debatte nicht zuletzt von Trump selbst, der drohte, die BBC “auf eine Milliarde Dollar” zu verklagen. Dazu kam der Vorwurf, die BBC verzerre systematisch: zu links, zu woke, zu pro Palästina. Keine Frage, die BBC hat Fehler gemacht: etwa viel zu lange zu mauern – eine schnelle Entschuldigung hätte geholfen, statt tagelang zu schweigen.
All jene, welche die BBC aus politischen Gründen längst abschaffen wollen, fühlen sich nun in ihrer Obsession gegen die Sendeanstalt bestätigt. US-Präsident Trump schreibt mit Genugtuung: «The TOP people in the BBC, including TIM DAVIE, the BOSS, are all quitting/FIRED, because they were caught doctoring my very good (PERFECT!) speech of January 6th.» Der frühere britische Premierminister Boris Johnson hat bereits angekündigt, künftig keine BBC-Gebühren mehr zu bezahlen. Und Oppositionschefin Kemi Badenoch fordert, der BBC keine neue Konzession mehr zu erteilen, bis diese belegen könne, dass sie unabhängig berichten könne.
Der Reputationsschaden bleibt. Doch ist die BBC aktuell noch die grösste öffentlich-rechtliche Sendeanstalt der Welt. Keine anderen Programme werden an so vielen Orten und so oft konsumiert wie Programme der “alten Tante”, wie die BBC in Grossbritannien auch liebevoll genannt wird. Sie ist ein journalistisches Flaggschiff und gehört zum öffentlichen Mobiliar des Vereinigten Königreichs. “Wenn die Welt einst untergehen sollte, wird das Letzte, was die Britinnen und Briten hören werden, ein Nachrichtensprecher der BBC sein”, schrieb vor wenigen Jahren der Historiker David Hendy in seinem Standardwerk “The BBC: A People’s History”.
Bleibt zu hoffen, dass diese Institution also noch einige politische Rochaden abzuwehren weiss. Denn nicht nur das britische Flaggschiff, sondern fast alle öffentlich-rechtliche Sender auf der Welt stehen massiv unter Druck von rechts.
Und damit lasse ich Dich in die nächste Woche starten! Schön warst Du auch heute mit dabei.
Redaktionsschluss: 12:30
Weekly 44/2025
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